Transformationserfahrungen: Lebensweltliche Umbrüche in Ostdeutschland nach 1990

Transformationserfahrungen: Lebensweltliche Umbrüche in Ostdeutschland nach 1990

Organisatoren
Stiftung Ettersberg; Landeszentrale für politische Bildung Thüringen; BMBF-Verbund „Diktaturerfahrung und Transformation”
Ort
Weimar und digital
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.10.2021 - 23.10.2021
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Von
Greta Hartmann, Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig; Jonas Brückner, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Das 19. Internationale Symposium der Stiftung Ettersberg widmete sich den lebensweltlichen Umbrüchen und der Transformation in Ostdeutschland nach 1990. In seinen einführenden Worten formulierte JÖRG GANZENMÜLLER (Weimar) das Ziel der Tagung: Politik- und sozialwissenschaftliche Betrachtungen der Transformationszeit sollten durch eine erfahrungsgeschichtliche Perspektive ergänzt werden. Die Notwendigkeit der Beschäftigung mit der ostdeutschen Transformation wurde besonders an ihrer Bedeutung für Gegenwart und Zukunft festgemacht. Die erfahrungsgeschichtliche Perspektive böte dabei Chancen, bisher dominierende Repräsentationen und Leiterzählungen kritisch zu hinterfragen.

Als Einstieg in die Betrachtung der Nachwirkungen der Transformationszeit lieferte EVERHARD HOLTMANN (Halle/Saale) quantitativ-politikwissenschaftliche Langzeitbetrachtungen der letzten Jahrzehnte. Dabei arbeitete er das ostdeutsche Erleben eines doppelten Transformationsschocks heraus. Als ersten Transformationsschock beschrieb er die „entsicherte Gesellschaft“, in der die ostdeutsche Bevölkerung in den 1990er-Jahren lebte. Als zweiten Schock deutete er die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09, die – obwohl vielfach latent geblieben – eine Anfälligkeit für möglicherweise aktuelle oder zukünftige Schocks darstelle. Mit der These des doppelten Transformationsschocks berührte Holtmann verschiedene Fragen hinsichtlich der Bedeutung der Transformation der ostdeutschen Gesellschaft in den 1990er-Jahren, etwa hinsichtlich ihrer Spezifik und ihrer Dauer sowie der Frage, ob sie um weitere Transformationen im gesamtdeutschen, europäischen oder sogar globalen Rahmen ergänzt werden müsse bzw. sich bereits mit ihnen überlagert.

Zu Beginn von Sektion I zu biographischen Brüchen widmete UTA BRETSCHNEIDER (Leipzig) sich den ländlichen Räumen, der „Provinz“, die viel zu häufig unerforschtes Terrain bleibe. Anhand des „Sonderwegs Landwirtschaft“ beschrieb sie eine ambivalente Transformationsgeschichte: Diese kennzeichne sich einerseits durch die vielfach auch nach 1990 erfolgreich fortgeführten, ehemaligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG), andererseits jedoch durch den damit einhergehenden massiven Abbau von Arbeitsplätzen. Die Folgen seien Landflucht und erzwungene Mobilität der Landbewohner:innen gewesen. Außerdem büßten die ehemaligen LPGs ihre Funktion als Träger sozialer und kultureller Infrastruktur in den Dörfern, die sie in der DDR innehatten, ein – oftmals ohne dass diese durch andere Träger übernommen wurden.

Das Thema der Treuhand betrachtete MARCUS BÖICK (Bochum/London) vor allem anhand der Beobachtung der Repolitisierung und Repopularisierung des Phänomenkomplexes in den letzten Jahren. Die Treuhand als „erinnerungspolitische bad bank“ und Symbol für Negativentwicklungen der Transformationszeit wurde sowohl von der AfD für ihren Landtagswahlkampf 2019 instrumentalisiert, als auch in kritischer Auseinandersetzung von politischen Initiativen und Künstler:innen aufgegriffen. Auch Böick formulierte die Notwendigkeit, aktuelle Wandlungsprozesse wie den der Digitalisierung in den Blick zu nehmen, und sprach sich für eine vergleichende Perspektive aus.

DETLEV BRUNNER (Leipzig) näherte sich Erfahrungen der Deindustrialisierung in den 1990er-Jahren über die Perspektiven auf Unsicherheit und Arbeitsplatzverlust. Mithilfe verschiedener Quellen, u.a. Interviews mit Arbeiter:innen und Telefonseelsorger:innen, setzte Brunner dem Bild passiver Arbeitsloser, die ihren Arbeitsplatzverlust apathisch hinnehmen, eines der aktiven Auseinandersetzung entgegen und betonte, dass die Bedeutung kollektiver Proteste bisher kaum erforscht ist. In der Diskussion griff Dorothee Wierling Brunners starke Zurückweisung eines ostdeutschen Opfernarrativs auf. In ihren eigenen Interviews stellte sie fest, dass die eigene Lebensgeschichte nie als Opfergeschichte erzählt werde. Patrice Poutrus betonte, dass das Opfernarrativ dennoch politisch wirkmächtig bleibe.

Die zweite Sektion zu soziokulturellen Brüchen wurde eröffnet mit der Vorstellung zentraler Ergebnisse einer Bevölkerungsumfrage in der Kleinstadt Prettin im östlichen Sachsen-Anhalt, in der es um Selbstbilder und Identitäten der Bewohner:innen 20 Jahre nach dem politischen Umbruch ging. NICOLE HÖRDLER (Jena) stellte dabei heraus, dass unter der Wohnbevölkerung ein „Ostdeutschsein“ generationenübergreifend abrufbar sei. Dies stünde keinesfalls in Konflikt mit der Zugehörigkeit zur Bundesrepublik, vielmehr zeigten sich Bemühungen der Integration und Vermischung der beiden Lebenswelten und von positiven wie negativen Erfahrungsgehalten. So stünden etwa positive Rückbezüge auf das Leben in der DDR hinsichtlich etwa sozialer Sicherheit neben einer Anerkennung der städtebaulichen Aufwertung seit dem Umbruch. Auffällig sei zudem, dass Bezüge zum direkten Lebensumfeld, also Prettin selbst, vor der Identifikationen mit der DDR oder Sachsen-Anhalt zentral seien.

JULIANE STÜCKRAD (Eisenach) bestätigte den Befund der großen Bedeutung des Lokalen in dörflichen und kleinstädtischen Kontexten, insbesondere als Ergebnis von Verunsicherungen nach der Wende. Dies werde auch anhand ihrer Feldforschung mit Fokus auf die Verhandlung und Wahrnehmung von Eingemeindungsprozessen im Elbe-Elster-Kreis deutlich. Mittels verschiedener Fallballspiele stellte Stückrad dar, dass Eingemeindungen vielfach mit einer Distanzierung der politischen Entscheidungsträger:innen von den Einwohner:innen und damit einem deutlichen Rückgang der Zufriedenheit mit Verwaltungshandeln einherginge. Diese Erfahrungen werden als Teil einer fortgesetzten Transformation gedeutet.

Dass Vertrauen in lokale Politik und Verwaltung von großer Bedeutung ist, stellte auch PEER PASTERNACK (Wittenberg) am Beispiel von Halle-Neustadt dar. Pasternack rekapitulierte die Entwicklung der staatsozialistischen Planstadt von „geplant expandierend in der DDR“ zu „ungeplant schrumpfend“ in Folge des großteiligen Wegfalls von Arbeitsplätzen in der örtlichen Chemieindustrie. Dabei wies er den massiven Bevölkerungsschwund nach 1990 hin, der zugleich mit einer starken Segregation der Einwohner:innen einhergegangen sei. Neben teilweise erfolgreichen Modernisierungen sei der Umgang mit der prekären Entwicklung vor allem von „administrativer Ratlosigkeit“ geprägt gewesen, der sich auch auf eine wachsende Gegnerschaft gegenüber als bundesrepublikanisch wahrgenommen Parteien, Nicht-Wählen und den gleichzeitigen Erfolg der AfD auswirkte.

In der anschließenden Diskussion wurde u.a. die Frage aufgeworfen, inwiefern Entfremdungserfahrungen von lokaler Politik und Verwaltung eigentlich spezifisch „ostdeutsch“ seien. Juliane Stückrad verwies darauf, dass DDR-geprägte Erfahrungen eines obrigkeitsstaatlichen Handelns auch flexibel in Deutungen der bundesrepublikanischen Gegenwart einfließen könnten. Peer Pasternack ergänzte, dass eine analytische gebotene Trennung von realen Transformationsfolgen und der Deutung von politischem Handeln als fortgesetzte Transformationsschocks lebensweltlich vielfach nicht vorgenommen werde, aber nach wie vor wirkmächtig sei.

Zu Beginn der Sektion III zu lebensweltlichen Brüchen ging VOLKER BENKERT (Tempe, AZ) der Frage nach, ob sich eine „Generation Einheit“ bestimmen lasse. Dabei betrachtete er anhand seines Interviewmaterials die Kohorte der um 1970 in der DDR Geborenen hinsichtlich ihrer Wahrnehmungen des Staatszusammenbruchs 1989 und ihrer anschließenden Neuorientierung. Benkert stellte sieben Idealtypen dar, deren teilweise stark unterschiedlichen Deutungen zu dem Befund führten, dass der gemeinsame Erfahrungsraum des Umbruchs in der DDR keineswegs zu einem gemeinsamen Narrativ von „89“ geführt habe. Als einen Grund dafür machte er aus, dass diese Altersgruppe 1989 mit Anfang Zwanzig über vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten verfügte und demnach „keinen Nutzen“ aus einer gemeinsamen Generationenerzählung gezogen hätte.

Mit einer ähnlichen Altersgruppe, nämlich Schüler:innen, des Jahrgangs 1973, befasste sich KATHRIN ZÖLLER (Potsdam). In ihrem Vortrag zu Umbruchserfahrungen in der Schule stellte sie zentrale Ergebnisse einer Zweitauswertung von Interviews der Sächsischen Längsschnittstudie (begonnen 1987 vom Zentralinstitut für Jugendforschung) vor. Dabei konstatierte sie u.a., dass die Schule als Institution auch systemübergreifend Mentalitäten konserviere. So hätte das grundsätzliche Prinzip von Zuschreibung und Leistungskontrolle den Schüler:innen wie den Lehrkräften auch in Zeiten großer Verunsicherung Orientierung geboten. Aufschlussreich war zudem Zöllers Analyse hinsichtlich der Beschreibung von rassistischen und antidemokratischen Phänomenen im Umbruch: Hier verorte sich die Mehrzahl der Studienteilnehmer:innen in einer unbeteiligten Beobachterperspektive, die Positionierungen in politisch (häufig gleichgesetzt) links oder rechts zurückweist, während alltagsrassistische Einlassungen nicht selten seien.

FRANKA MAUBACH (Jena) knüpfte hier an und fokussierte Erfahrungshorizonte der von rassistischen Anfeindungen und Gewalt betroffenen Personen in der Umbruchs- und Nachwendezeit. Sie konstatierte, dass eine Zeitgeschichtsschreibung des Rassismus gerade erst begonnen habe und hier insbesondere praxeologische und erfahrungsgeschichtliche Zugänge wichtig seien, um die Sichtbarkeit von Betroffenenperspektiven zu erhöhen und um eine kritische gesamtgesellschaftliche Perspektive zu eröffnen. Was das heißen kann, zeigte Maubach mittels der Untersuchung rassistischer Gewalterfahrungen vietnamesischer Straßenhändler:innen. Dabei arbeitete sie heraus, dass ein migrantisches Wissen um die Bedrohungslage existiere, das sich von der Wahrnehmung der „Mehrheitsgesellschaft“ deutlich unterscheide. Zudem skizzierte sie vielfältige Strategien der Gegenwehr, die eine „migrantische agency im Umgang mit Rassismus“ widerspiegeln.

In Sektion IV zum Erzählen von Erfahrungen widmete PATRICE G. POUTRUS (Erfurt) sich der Diktatur- und Transformationserfahrung in der Familienerinnerung, deren zentrale Bedeutung er anhand des Thüringen Monitors und eigener Familieninterviews mit jeweils drei Generationen herausstellte. Er betonte, dass die Familienidentität vor allem von emotionalen Erinnerungen geformt werde. Sie gelten als kaum anzweifelbare Gewissheiten und aufgrund der Erfahrung aus erster Hand als besonders authentisch. Inhaltlich zeige sich, dass die Erfolgsgeschichte der Wiedervereinigung in den Familienerzählungen narrativ weitgehend zurückgewiesen werde. Die zentralen alltäglichen Erfahrungen, die die Familienerinnerung ausmachen, würden hingegen im öffentlichen Geschichtsbild nicht abgebildet. Dass die Familienerzählungen nur wenig Eingang in das öffentliche Erinnern erhalten, liegt laut Poutrus nicht daran, dass die „schweigende Generation“ nicht zum Reden bereit sei – was sich auch anhand der überaus zahlreichen Rückmeldungen auf den Aufruf zur Beteiligung am Forschungsprojekt zeige.

VERENA KRIEGER (Jena) fokussierte in ihrem kunsthistorischen Vortrag auf die Deutung der Transformation bei Wolfgang Mattheuer. Das Werk „Ausbruch (Panik)“ von 1988/89 interpretiert sie als Allegorie des Herausstrebens aus den DDR-Verhältnissen. Anhand der Werkgeschichte des Künstlers näherte sich Krieger dem Motiv der aus einem dunklen Raum in einen anderen dunklen Raum fliehenden Menschenmenge und zeigte damit Mattheuers skeptisches Gegenbild zu den Bildern euphorischer Mengen im Kontext des Mauerfalls.

CHRISTOPH CLASSEN (Potsdam) behandelte filmische Deutungen des Endes der DDR. Als Mitorganisator des Filmfestivals „Als wir träumten. Revolution, Mauerfall, Nachwendezeit“ gab er einen Einblick in thematisch entsprechend gelagerte Werke. Dabei stellte er heraus, dass im ostdeutschen Dokumentarfilm der frühen 1990er-Jahre vor allem Perspektiven von Verlust und Geschichten von Ostdeutschen als Verlierern der Wende dargestellt werden. Demgegenüber werde in Komödien ostdeutsche Selbstermächtigung sichtbar. Während in den 2000er-Jahren das Thema Stasi besonders stark in den Fokus gerückt und damit vor allem das Diktaturgedächtnis bedient wurde, beleuchteten jüngere Filme, wie etwa „Gundermann“, zunehmend Ambivalenz und bemühten sich um differenzierte Sichtweisen.

Zusammenfassend betrachtet, skizzierten die Vortragenden vielfältige Perspektiven auf subjektive Deutungen von Transformationsprozessen, etwa durch Wiederaufbereitung von Umfragedaten oder mithilfe eigener Erhebungen und Archivarbeit. Damit konnte das Symposium seinem Anspruch, Umbruchsprozesse erfahrungsgeschichtlich zu akzentuieren, weitgehend gerecht werden. Dass diese Schwerpunktsetzung lohnenswert ist, wurde an der plausiblen Infragestellung und Differenzierung eingeschliffener Deutungsmuster sowie der Sichtbarmachung blinder Flecken deutlich. Hervorzuheben sind hier u.a. die Perspektive auf migrantisches Wissen und Handlungsstrategien, die Bedeutung politischen Handelns sowie Diskurse über Zugehörigkeit auf der lokalen Gemeindeebene sowie das Aufbrechen und Ergänzen vereinfachender Opfernarrative.

Kritisch anzumerken ist, dass sich in den Diskussionen über Menschen, die vom Umbruchsprozess negativ betroffen waren, eine psychologische Terminologie (Trauma“, „Trigger“ etc.) einer gewissen Beliebtheit erfreute. Ohne die Möglichkeit eines analytischen Mehrwerts prinzipiell in Frage zu stellen, bleibt die Angemessenheit solcher Begrifflichkeiten aus historischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive zumindest erklärungsbedürftig.

Konferenzübersicht:

Einführung

Jörg Ganzenmüller (Weimar): Eröffnung

Bodo Ramelow (Erfurt): Videogrußwort des Ministerpräsidenten

Everhard Holtmann (Halle/Saale): Die ostdeutsche Transformationsgesellschaft. Strukturbrüche und Erfahrungswelten

Sektion I: Biographische Brüche. Transformationserfahrungen in der Arbeitswelt
Moderation: Christiane Kuller (Erfurt)

Uta Bretschneider (Leipzig): Berufsbiografien und Transformationserfahrungen auf dem Land

Marcus Böick (Bochum/London): Die Treuhand und die Erfahrung der Entindustrialisierung

Detlev Brunner (Leipzig): Arbeitsplatzverlust und Unsicherheit. Erfahrungen der Deindustrialisierung in den 1990er Jahren

Sektion II: Soziokulturelle Brüche. Transformationserfahrungen in der Stadt und auf dem Land
Moderation: Alexander Thumfart (Erfurt)

Nicole Hördler (Jena): Zwischen Aufbruch, Resignation und Identitätssuche. Die 1990er Jahre in der Kleinstadt Prettin

Peer Pasternack (Wittenberg): Schrumpfende Städte. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven auf Halle-Neustadt

Juliane Stückrad (Eisenach): Ländlicher Raum und dörfliche Alltagskultur in der Transformation

Sektion III: Lebensweltliche Brüche. Gesellschaftliche Transformation als Alltagserfahrung
Moderation: Sandra Tänzer (Erfurt)

Volker Benkert (Tempe, AZ): Generationelle Erfahrungen

Kathrin Zöller (Potsdam): Die Schule im Umbruch. Erfahrungen von Lehrer:innen und Schüler:innen

Franka Maubach (Jena): Lichtenhagen und anderswo. Rassistische Gewalterfahrungen in der Transformation

Sektion IV: Erfahrungen erzählen. Deutungen und Sinnstiftungen der Transformation
Moderation: Anke John (Jena)

Patrice G. Poutrus (Erfurt): Diktatur- und Transformationserfahrung in der Familienerinnerung

Verena Krieger (Jena): Transformationserfahrungen in der ostdeutschen Kunst

Christoph Classen (Potsdam): Transformationserfahrungen in Film und Fernsehen

Abschluss

Franz-Josef Schlichting (Erfurt): Schlusswort